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Publications in Scientific Journals:

M. Döring-Williams, G. Esser:
"Die Spitalskirche(n) in Oberwölz, Steiermark";
Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege, 57 (2004), 1; 13 - 24.



English abstract:
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German abstract:
Die Spitalskirche(n) in Oberwölz, Steiermark


Oberwölz (Bez. Murau, Stmk.) gilt nicht nur als die höchstgelegene, sondern auch als die kleinste Stadt der Steiermark. Sie blickt - ausgehend von einer Schenkung Heinrichs II. an den Freisinger Bischof - auf eine 1000 Jahre alte Geschichte zurück und birgt innerhalb ihrer noch im 13. Jahrhundert begonnenen Stadtbefestigung mit gut erhaltenen Wehranlagen eine ganze Anzahl hochkarätiger mittelalterlicher Architekturen. Hier seien nur der Freisinger Amthof, die Stadtpfarrkirche St. Martin und die ehemalige Spitalskirche St. Sigismund genannt. Die Analyse dieses letztgenannten, in seiner Raumkonzeption höchst bemerkenswerten Baus ist Thema der folgenden Ausführungen.
St. Sigismund befindet sich in zentraler Lage am Hauptplatz der Stadt, nördlich der Pfarrkirche St. Martin und im direkten Anschluß an die ehemalige Stadtmauer mit dem Hintereggertor (Abb.1). Die Kirche präsentiert sich in ihrer charakteristischen gotischen Formensprache als eine in Grundriss und Volumetrie eigenwillige Anlage, deren Raumkompartimente - Chor, Sakristei, Langhaus, Empore - in auf den ersten Blick unsystematischer Weise zusammengeführt sind (Abb.2). Auf ihre ursprüngliche Funktion als Spitalskapelle lässt heute nur noch der Name schließen. Die ehemals nördlich anschließenden Spitalsgebäude zur Unterbringung der Kranken wurden im 20. Jahrhundert rückgebaut und durch den bestehenden Sparkassenbau ersetzt.
Die Primärquellen zum Hospital, bzw. zur Hospitalkirche in Oberwölz sind eher dürftig. Auf das Bestehen eines Spitals kann seit 1358 geschlossen werden, da in einer Urkunde vom 3. Februar des Jahres ein magister hospitalis (Spitalverwalter) namens "Vlreich der Chnoll" genannt wird. Eindeutig fassbar wird das Gebäude selbst erst am 1. September 1360. An diesem Tag verpflichtete sich der Stadtpfarrer von Oberwölz dem Bischof von Freising gegenüber, einmal täglich in der "capella hospitali dicti oppidi in Weltz annexa" die Messe zu lesen. Vier Jahre später - auf den Tag genau - bestätigt Bischof Paul von Freising eine Schenkung an diese Spitalskapelle und damit gleichzeitig den Fortbestand der Anlage. Die nächste Erwähnung erfolgt erst 180 Jahre später, und zwar im landesfürstlichen Visitationsprotokoll von 1544/45. Daraus geht hervor, dass "Sannt Sigmunds Gotteshauß und Spital zu Oberwelcz von einem Bischoff von Freysing gestifft" worden seien.
Objekt historischer und bauhistorischer Betrachtung ist St. Sigismund erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Bearbeitern wie Joseph A. Janisch , Johann Graus , Friedrich Schmidt , Ferdinand Krauss und Johann Tippl ist ein wichtiger Teil der Aufarbeitung der historischen Quellen, die Erstellung erster zeichnerischer Grundlagen und grundsätzliche Erwägungen zur architekturhistorischen Einordnung der Anlage zu verdanken. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts überwiegt schließlich das Interesse an der Interpretation des eigenwilligen, ambivalenten Raumgefüges der Oberwölzer Spitalskirche. Es werden - meist im Kontext der Auseinandersetzung mit räumlichen Phänomenen der gotischen Architektur - die "scheinbare" Zwei- bzw. Dreischiffigkeit des Langhauses, seine Affinität zu Einstützenkirchen, Sechseckkirchen und Drei- und Vierstützenräumen diskutiert, und nicht zuletzt Fragen nach möglichen Einflüssen böhmischer, altbayerischer, bayerisch-salzburgerischer und auch Admonter Bautraditionen erörtert.
Konkrete Aussagen zur eigentlichen Baugeschichte hingegen finden sich nur vereinzelt, wobei neben stilgeschichtlichen Argumenten in erster Linie wiederum historische Quellen als Rekonstruktionshilfen herangezogen werden. So sind sich die Autoren darin einig, Hans Jersleben , dessen Portraitbüste samt zugehöriger Bauinschrift an exponierter Stelle an der Sakristei-Nordwand angebracht ist, als den für das aktuelle, bauliche Erscheinungsbild der Kirche hauptverantwortlichen Baumeister anzuerkennen. Die Bauinschrift zeugt vom Selbstbewusstsein des Architekten:

Das.gebeid.han.ich.hanns
Jerslebn.mit.frumer.leibt.hilff.
volpracht.der.wird.yar.wol.geacht.iset
geschehe.nach.Christi.gepurd.XIIII hundert.
Jar.darnach.in.de.XXXiar.Got.helf.uns.all.
An.d:engel:schar.amen.Das.werde.war

Der in der Inschrift genannte terminus ante quem, also eine Bauzeit vor dem Jahr 1430, erhält durch das im Kircheninneren angebrachte Stifterwappen des Freisinger Bischofs Nicodemus della Scala (1421-1443) eine weitere Bestätigung.

Dennoch bleibt die Gesamtzuschreibung an Jersleben und besonders die in der Bauinschrift angedeutete Vollendung durch ihn nicht unangezweifelt. Erwähnenswert ist an dieser Stelle auch die Frage bzw. die Suche nach dem Standort der "capella hospitali dicti oppidi ...", der die archivalischen Erwähnungen des 14. Jahrhunderts galten, und die offensichtlich einen Vorgänger des Jersleben-Baus meint. Die Interpretationen dazu sind in der Fachwelt vielfältig:
Renate Wagner-Rieger vermutet beispielsweise "in den Emporenpfeilern des Langhauses noch Teile des 14. Jhs.", und Inge Woisetschläger-Mayer glaubt, im Erdgeschoß des Sakristeibaus Reste "vom ersten Bau der Spitalskirche aus dem 14. Jh." erkennen zu können. Hans Riehl dagegen deutet in seiner Kurzbeschreibung der Oberwölzer Spitalskirche in Reclams Kunstführer von 1961 - ohne jeden weiteren Kommentar - einen "älteren Chor (1360?)" an. An der Stelle des heutigen Chores vermutet auch Eberhard Grunsky die alte Kapelle und spricht von einer "vom Vorgängerbau gegebenen Orientierung des Chores ...".
Die Argumente der Bearbeiter basierten bisher hauptsächlich auf Widersprüchen, die im stilistischen Vergleich einzelner Bauteile festgestellt wurden, oder wurzelten im Versuch, bestimmte historische Ereignisse am Gebäude selbst ablesbar zu machen. Eine Bauuntersuchung, die sich auf das bestehende Gebäude selbst, seine Konstruktion, sein Baumaterial und sein Mauerwerksgefüge an sich konzentriert, stand bisher aus.

Im Rahmen zweier Bauaufnahme-Kampagnen, die im September 2002 und April 2003 durchgeführt wurden, versuchte nun das Institut für Architektur- und Kunstgeschichte, Bauforschung und Denkmalpflege der TU Wien, diese Forschungslücke zu schließen. Durch die direkte Betrachtung und Analyse des Bauwerks selbst wurden bauliche Indizien für die Rekonstruktion der Bauabläufe - und damit seiner unmittelbaren Baugeschichte - gesammelt. Erst in einem zweiten Schritt wurden diese Ergebnisse dann den Archivalien und den bisherigen Resultaten von kunstgeschichtlicher Seite gegenübergestellt.

Das Resultat dieser Untersuchungen ist nun ein völlig revidiertes Bild der baulichen Entwicklung der ehemaligen Spitalskirche zum Hl. Sigismund. Zwar bestätigt die Bauanalyse die schon von mehreren Autoren vorgetragene Ansicht (s.o.), nach der der bestehende Kirchenbau keiner einheitlichen Planung zu verdanken ist, die Erkenntnisse gehen im Detail jedoch weit darüber hinaus. Es zeigt sich nämlich, dass die Kirche das Ergebnis eines spätestens im 14. Jahrhundert begonnenen Prozesses darstellt, an dessen Ende es dem Architekten des 15. Jahrhunderts gelingt, durch Ergänzung der vorhandenen Vorgängerstrukturen einen in seiner Gesamtkonzeption schlüssigen Entwurf umzusetzen.

Schon der Blick auf den Grundriss (Abb.3) enthüllt das Nebeneinander unterschiedlicher Systeme: den in sich harmonischen Chorbau, das im Grundriss verzogene Rechteck der Sakristei, die Halle mit der Mittelstütze, die L-förmig abgewinkelte Empore und das Hintereggertor mit seiner Erweiterung, dessen Grundriss sich in Teilen mit der Kirche deckt. Die nähere Betrachtung der verschiedenen Teile der Kirche hat zu den im Folgenden beschriebenen Einzelergebnissen geführt:

Der heutige Chor als freistehender Vorgängerbau (Bau 1). Der zweijochige Chorbau mir seinem 5/8-Schluß ist ehemals als Solitär errichtet worden. Dies bezeugt in unzweifelhafter Weise der frühmittelalterliche Westgiebel, der sich über dem Triumphbogen im Dachraum der Kirche erhalten hat und durch seine zwei unterschiedlichen Seiten - die Westseite zeigt noch den originalen Außenputz, seine Ostseite dagegen ist unverputzt - für den zugehörigen heutigen Chorbau die ursprüngliche westliche Außenwand definiert (Abb.4).
Zwischen Chor und Sakristei ergibt sich in der Konsequenz eine deutliche Nahtstelle, die über die gesamte Gebäudehöhe erkennbar ist und belegt, dass der Bau einst rundherum freistand. Die Ostwand der Sakristei "ummantelt" nämlich den nördlichen Strebepfeiler der ehemaligen Westfront der Kirche, und berücksichtigt damit den "Chor-Solitär" als ein zur Bauzeit der Sakristei offensichtlich bereits bestehendes Gebäude.
Einen Hinweis auf das äußere Erscheinungsbild dieses ersten Kirchenbaus könnte das an der Nordwand des Chores befindliche Fresko der Maria Lactans geben (Abb.5): Das Bild zeigt nämlich die Madonna auf einem Thron sitzend, der trotz aller Allegorisierung klare Bezüge zum ursprünglichen Kirchenbau aufweisen könnte. Klar erkennbar ist der für die Oberwölzer Kirche typische, auf einen Strebepfeiler "gerückte" Dachreiter am Chor, der im Fresko allerdings ein zusätzliches westliches Pendant aufweist. Auch die angedeutete kompakte Kirchenfassade mit dem zweibahnigen gotischen Fenster lässt die Identifizierung des Chores von St. Sigismund als Malvorlage zu. Damit ist auch ein erster Rückschluss auf das Innere zulässig, denn die offensichtlich zum Ursprungsbau gehörigen Strebepfeiler des Außenbaus sind - statisch gesehen - nur dann nötig, wenn im Inneren entsprechende Schubkräfte wirken, wie sie z.B. bei einem Kreuzrippengewölbe wie dem bestehenden entstehen. Die bisher wenig beachtete Diskrepanz zwischen den Datierungen für die Kirche einerseits und die Gewölbemalereien des Chores andererseits, die nach Woisetschläger "um 1400 entstanden sein dürften" und damit einen terminus ante quem für die Gewölbe darstellen, werden durch die Erkenntnis aufgelöst, dass der Chor zur Bauzeit der Jersleben-Kirche schon bestanden haben muß. Wie die Übereinstimmungen der Darstellung im Fresko mit dem heutigen Zustand des Chores andeuten, sorgten wohl auch bei dem ersten Bau mehrbahnige Maßwerkfenster in der Südfassade für die Belichtung. Darüber hinaus kann sogar die Zugänglichkeit des ehemaligen Gebäudes zumindest teilweise nachvollzogen werden: das im Norden angeordnete gotische Spitzbogenportal, dessen Notwendigkeit an gerade dieser Stelle heute nicht mehr einsichtig ist, hatte jedenfalls über die Jahrhunderte im Nutzungszusammenhang des Spitals seine funktionale Berechtigung. Die eher geringe Größe des Portals, jedoch in Kombination mit seinem aufwändigen Gewändeprofil definiert es als einen funktional wichtigen, dem Markt und der Stadt zugewandten Nebeneingang. Hinweise auf einen in der Westfassade möglicherweise vorhandenen Haupteingang wurden beim späteren Einbau des Triumphbogens vollständig beseitigt, womit gleichzeitig ein wichtiger Aspekt der Gebäudeerschließung verloren ging.

Der Sakristeiturm. Das im Grundriss unregelmäßig rechteckige und drei Stockwerke hohe Wandgeviert, in dessen Erdgeschoss sich heute die Sakristei befindet, erscheint als ein vollständig autonomer Körper, der auf Grund der Ausrichtung seiner Wände und seiner Mauerstärken in keines der umliegenden Konstruktionsraster einzuordnen ist. Sein eigenständiger, auf einen kleinen Raum beschränkter Grundriss lässt sich über alle Geschosse hinweg bis zur Mauerkrone verfolgen. Sein Proportionsverhältnis von ca. 1 : 2,5 (Seitenlänge / Höhe) lässt diesen Baukörper als einen kompakten Turm erscheinen - die Bezeichnung als "Sakristeiturm" ist also durchaus legitim. In der relativen Bauchronologie folgt er offensichtlich auf den Chorbau, denn seine Ostwand entsteht erst als nachträgliche Anfügung des früheren Strebepfeilers (s.o., vgl. auch Abb.6) Das Erdgeschoss wird von einem einfachen Tonnengewölbe überdeckt, im ersten Obergeschoss findet sich ein unregelmäßiges Kreuzgratgewölbe. Beide Gewölbeformen wie auch seine sehr einfach ausgeführten Türgewände unterscheiden den Sakristeiturm von den angrenzenden Bereichen der Kirche. Sein zweites Obergeschoss nimmt eine hölzerne Treppe auf, die auch heute noch den Aufstieg zum Dachraum der Kirche gewährleistet.

Die integrierte Stadtbefestigung. Neben den bisher beschriebenen Gebäudeteilen, die als Vorgänger der in der bisherigen Diskussion weitgehend konsensual angenommenen Hauptbauphase der 1430er Jahre bezeichnet werden müssen, nehmen jedoch auch verschiedene Strukturen der Stadtverteidigung eine wichtige Rolle für das Verständnis der komplexen Baugeschichte von St. Sigismund ein. An erster Stelle ist hier das im Südwesten an die Empore anschließende Hintereggertor in seiner ersten Bauphase zu nennen. Mit seiner Grundfläche von 7 x 8 Metern und seinen über zwei Meter starken Außenwänden trug es einst wenigstens zwei Obergeschosse. Im Norden an das Stadttor anschließend findet sich in der Flucht des weiteren Verlaufs der Stadtmauer die ein Meter starke Westwand der Kirche, für die im Bereich unterhalb des Giebelansatzes eine sehr regelmäßig ausgeführte Verzahnung mit der nördlichen Torwand offen zu Tage liegt (Abb.7).
Dieser Befund im Verein mit dem Fertigstellungsdatum des ersten Torbaus zwischen 1298 und 1315, sowie die Tatsache, dass sich noch heute im unteren Giebelfeld der Kirche drei Schlitzscharten befinden, die auf den Gebrauch der Armbrust und damit auf eine Bauzeit vor dem 15. Jahrhundert hinweisen, belegen die Tatsache, dass es sich bei der Westfront von St. Sigismund um einen adaptierten Abschnitt des großen Mauerrings von der Wende zum 14. Jahrhundert handelt. Ein ähnlich ausgeformtes Anschlussdetail sollte eigentlich auch an der Nordecke der Westwand der Kirche sichtbar sein, geht man davon aus, dass sich die Wehrmauer kontinuierlich nach Norden fortsetzt. Der Baubefund zeigt hier jedoch keinerlei Hinweise, vielmehr sind an der glatt um die Ecke geführten Außenseite der Wand, die nach Abriss des Armenhauses - klassischer Nutzungswandel eines Spitals im 20. Jahrhundert! - nun wieder freiliegt, weder Wartesteine, die auf einen mögliche Fortführung der Mauer hindeuten würden, noch eine Bauwerksfuge zu erkennen (Abb.8). Vielmehr knickt die Wehrmauer in gleicher Wandstärke im rechten Wickel nach Osten ab, um nach weiteren acht Metern auf den Sakristeiturm zu stoßen.

Die Architektenleistung Hans Jerslebens (Bau 2). Dies also sind die baulichen Voraussetzungen für den Kirchenbau in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts: die Gesamtheit der vorhandenen Gebäude formuliert eine Art Hofsituation am Rande der umwehrten Stadt, auf die der Architekt wie bei einer modernen, gut gelösten "Baulückenschließung" mit einem minimalen Eingriff vereinigend und umdeutend antwortet . Die Baumaßnahme, die entsprechend der Bauinschrift am wahrscheinlichsten Hans Jersleben zugeschrieben werden kann, schafft mit der Schließung der noch offenen Südseite des "Hofes" und dem Durchbruch des Triumphbogens in die westliche Giebelwand des Chores, bei der diese zur Innenwand mutiert, eine neue innenräumliche Situation. Der im wesentlichen zu bearbeitende Raum der trapezförmigen ehemaligen "Hoffläche" erfährt eine ausgeklügelte Aufteilung in 3x3 Joche und 3 Raumzonen: die Vier-Joch-Halle mit der Mittelstütze im optischen Zentrum des Raumes, die L-förmig abgewinkelte Empore, das bestehende Sakristeijoch.
Das wichtigste Gestaltungsziel der Baumaßnahme - der räumliche Anschluß des hohen Hallenbereichs an den Chor - wird durch die geometrisch exakte Positionierung von Triumphbogenscheitel, Mittelstütze und südlicher Emporenstütze in einer Flucht erreicht. Der Triumphbogen entsteht dabei durch Subtraktion des größten Teils der ehemaligen Westwand von Bau 1 und stellt so die Verbindung zwischen Bau 1 und Bau 2 der Spitalskirche her. Sein Grundriss belegt den Prozess des Abwägens seiner Einbau-Position zwischen dem Erfordernis, einen möglichst breiten Hallenteil zu schaffen und jenem, den Triumphbogen sowohl von der Halle aus wie auch vom Chor aus mittig in der Wand zu platzieren . Den Netzgewölben der "4-Joch-Halle" gelingt es, über die genau austarierten Positionen der raumzentrierenden Mittelsäule und der südlichen Emporenstütze, die eine Flucht mit dem Scheitelpunkt des Triumphbogens bilden, eine Stimmigkeit der neuen Gebäudelängsachse und damit die Gesamtharmonie des Raumgefüges zu suggerieren (Abb.9).
Besondere Wichtigkeit erhält die über zwei Seiten umlaufende Empore mit ihren drei überproportional großen und mit der größtmöglichen Regelmäßigkeit ausgestatteten Feldern, die auf Grund dieser Merkmale sogleich Fragen nach der Funktion aufwerfen . Die beiden später zugesetzten Verbindungstüren zum Spitalsgebäude jenseits der Kirchennordwand befinden sich im Erdgeschoss im Nordwestjoch, im Obergeschoss aber im nördlichen Mitteljoch, das von allen das unregelmäßigste ist: im Osten beschnitten durch den Turm der Sakristei, fungiert es im Emporengeschoss als Schleuse zwischen der Kirche und dem heute fehlenden Spital. Räumlich betrachtet umgreift also der doppelgeschossig angelegte Bereich der Empore mit dem niedrigen Erdgeschoss und dem großzügigen, hohen Emporengeschoss die 4-jochige hohe Halle, die über Ihre Breite und Höhe ganz auf den Triumphbogen und damit auf den Chorraum bezogen ist. Dieses neue räumliche System mit seinen klar abgrenzbaren Untereinheiten Chor, Halle und Empore funktioniert so in einer Art doppelten Lesbarkeit: von der Empore aus betrachtet erscheint die Kirche als eine zweischiffige Halle mit anschließendem, nahezu gleich hohem Chorbereich, von Osten aus gesehen dagegen nimmt man ein dreischiffiges, nach hinten doppelgeschossig verdichtetes System mit eingestellter Nordempore wahr.

Die rein stilgeschichtlich orientierte Diskussion hat die Konsistenz des Eingriffs von Hans Jersleben aufgrund fehlender Informationen über die Bauabläufe in der Vergangenheit oft in Frage gestellt. Wie oben bereits erwähnt, wurden die Kreuzrippengewölbe unter der Empore von verschiedenen Autoren noch in das 14. Jahrhundert datiert, genau wie auch die prismatische, etwas "altertümlich" erscheinende Emporentreppe. Vor dem Hintergrund der nun vorliegenden Baubefunde kann jedoch davon ausgegangen werden, dass nahezu alle Maßnahmen im Bereich von Halle und Empore auf Jersleben zurückgehen, und dass insbesondere die nahezu komplette hochgotische Bauplastik in diesem Bereich einschließlich der dazugehörigen Tragkonstruktion seinem Entwurf angehören . Ein Primärindiz dafür stellen darüber hinaus die im Treppenturm und am Mittelpfeiler nachweisbaren, identischen Steinmetzzeichen dar.


Deutung und Funktion. Im Hinblick auf die neuen Ergebnisse durch die Bauanalyse lassen sich nun auch einige neue Interpretationsvorschläge zur ursprünglichen Funktion des Oberwölzer Spitalsgebäudes formulieren. Die Bauanalyse hat gezeigt, dass der heutige Chor der Sigismundskirche zu den ältesten Baukörpern des Spitalareals gehört und ursprünglich als Solitär mit hoher Spitzgiebelwand und möglicherweise mit einem weiteren Dachreiter an der Westseite bestand. Die aufgrund der nachweislich bereits zur ersten Bauphase gehörenden äußeren Strebepfeiler lassen aus statischen Überlegungen im Inneren eine Gewölbelösung mit Kreuzrippensystem annehmen. Trifft die stilgeschichtlich hergeleitete Datierung der Gewölbemalereien auf die Zeit um 1400 zu, könnte es sich bei dem heutigen Chorgewölbe - zumindest bezüglich des konstruktiven Gefüges - sogar noch um das hochmittelalterliche Original handeln.
Ungeachtet der Datierung sind die Rippengewölbe Zeichen einer Nobilitierung des Gebäudes und weisen auf einen sakralen Charakter bereits des kleinen Vorgängers der Jersleben-Kirche hin. Eine über die bloße Identifikation eines sakralen Bautyps hinausgehende Zuordnung könnte allerdings eine bisher weitgehend unbeachtete, archivalische Erwähnung aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ermöglichen: Urkunde 1917a der Urkundenreihe im Steierischen Landesarchiv in Graz nennt im Jahre 1323 für Oberwölz das goczhaus zu Welcz und die sand Niclas chapell. Beachtet man nun, dass neben St. Lazarus, St. Katharina, St. Magdalena, St. Georg und St. Leonhard gerade St. Nikolaus einen der wichtigsten Leprosenschutzheiligen darstellt, dessen Namen eine Vielzahl von Hospitälern und Leprosorien tragen, und dass das heute gültige Patrozinium des Heiligen Sigismund erstmals in dem Visitationsprotokoll von 1544/45 - bezugnehmend auf ein Ereignis des 15. Jahrhunderts - genannt wird, erscheint die Interpretation des kleinen Vorgängerbaus der Jersleben-Kirche als erste Spitalskirche von Oberwölz - St. Niclas also - als durchaus schlüssig. Auch die Lage in der Stadt ist charakteristisch. Nicht nur an der Stadtmauer, sondern sogar in unmittelbarer Nähe zum Stadttor und nicht zuletzt - den mittelalterlichen Forderungen der Hygiene gehorchend - an einem fließenden Gewässer, dem Schöttlbach, gelegen, erfüllte bereits St. Niclas alle Ansprüche an den urbanen Kontext eines mittelalterlichen Hospitals. Was den relativ kleinen Baukörper mit nur zwei Jochen und einem 5/8-Chor anbelangt, so lassen sich bauhistorisch vergleichbare Bauten des Hochmittelalters im deutschsprachigen Raum durchaus zahlreich finden, so z.B. das Heilig-Geist-Hospital in Treysa (Hessen), St. Johannis in Quedlinburg, oder die Spitalskirchen in Krems, Mödling und Perchtoldsdorf (Abb ....). Kennzeichen fast eines jeden Spitalgebäudes war das Vorhandensein einer Glocke, wobei das Recht zu dieser Glocke - ebenso wie das Recht zur Errichtung eines Altars, den Spitälern vom Bischof verliehen wurde. In der Regel hängt die Glocke in einem Firstreiter, der meist in Gestalt eines Giebelreiters an der Eingangsseite der Spitalskirche angebracht wurde. In Oberwölz dagegen befindet sich die Glocke der Spitalskirche heute ausgesprochen asymmetrisch positioniert auf einem der Strebepfeiler des äußeren Chores, also an der untypischen Ostseite. Der obere Abschluß des Westgiebels der alten Kapelle ist so stark beeinträchtigt (Abb. ...), daß es heute nicht mehr möglich ist, eventuelle Reste eines ehemaligen Giebelreiters an dieser Wand festzustellen (s.o.). Es muß daher offen bleiben, ob das aktuelle Glockentürmchen - wofür dessen unorthodoxe Lage und auch die Fehlstelle an der westlichen Giebelwand sprechen könnten, erst als Reaktion auf den Rückbau seines Vorgängers an der Westseite an diese Stelle rückte.
Durch die Deutung des Chors der Sigismundskirche als erste Spitalskapelle würde auch das im aktuellen baulichen und städtebaulichen Kontext funktional völlig unpassende Nordportal eine Erklärung finden: ein Nebeneingang in dem dem Haupteingang am nächsten liegenden Joch gehört, wie auch die bereits genannten Beispiele zeigen, zum Raum- und Nutzungskonzept einer Vielzahl kleinerer Spitalskirchen.
Ein weiteres urbanistisch relevantes Detail soll an dieser Stelle noch genannt werden. Die sand Niclas chapell reagiert zum goczhaus zu Welcz, womit die unter bischöflicher Obhut stehende Martinskirche mit ihrer mindestens in die Romanik zurückreichende Baugeschichte gemeint sein muß, städtebaulich in bemerkenswerter Weise. Stellt St. Sigismund heute zwar ein scheinbar willkürlich gesetztes Raumgefüge dar, so orientierte sich St. Niclas bemerkenswert exakt an der Ausrichtung St. Martins. Wie sich im verformungsgerechten Aufmaß präzise nachweisen lässt, verlaufen die Längswände der beiden Sakralbauten genau parallel zueinander - möglicherweise ein Hinweis auf eine noch bischöflich gelenkte Gründung des Spitals. Diese Erkenntnis könnte insofern historisch und bauhistorisch von Bedeutung sein, als sich hier womöglich der Wandel vom bischöflich kontrollierten Hospital zum Bürgerspital greifen lässt, der wiederum oft Hand in Hand mit den Stadt- und Marktrechtsverleihungen geht. Die Nennung eines magister hospitalis 1358 spricht für die bereits vonstatten gegangene Übernahme des Spitals in das so genannte Hospital-Amt, das von den Bürgern bzw. dem Magistrat einer Stadt eingesetzt wird, und zwei Ratsmitglieder, einen Spitalverwalter und eben auch den Spitalmeister umfasst.
Im Rahmen dieser Arbeit würde es zu weit führen, eine eingehende Diskussion zum mittelalterlichen Spitalswesen zu beginnen. Dennoch sei an dieser Stelle angemerkt, dass wichtige Fragen zu den eigentlichen Hospitalsgebäuden - d.h. den Gebäuden der Unterbringung der Kranken - und zwar sowohl zu denen der Niclas-Kapelle, als auch zu denen der Sigismundskirche noch ungeklärt sind. Als sicher anzunehmen ist lediglich, dass St. Niclas eine Erweiterung nach Westen erfahren hat. Dabei wurden Raumkompartimente angefügt, die ihrerseits der Anlage ein Aussehen verleihen, das an die im gotischen Hospitalbau gebräuchlichste Form, nämlich den Hospitaltypus mit Kapellenanschluß erinnert (z.B. Elisabeth-Hospital in Spangenberg, Heilig-Geist-Hospital in Gelnhausen, Bürgerhospital in Weißenburg). Verstärkt wird dieser Eindruck eines kombinierten Kapellen-Krankensaals noch durch die auffallend breite, sogar noch einen Teil der nördlichen Längswand einnehmende Empore. Mit ihrem separaten Altar erinnert sie stark an den zweigeschossigen Hospitaltyp, den Eberhard Grunsky an zahlreichen Spitalsbeispielen - u.v.a. eben auch St. Sigismund in Oberwölz - unter Berücksichtigung ihrer jeweils individuellen baulichen Gegebenheiten umfassend erörtert hat. Allerdings legt der Baubefund nahe, dass der Jersleben-Bau wohl von vornherein oder zumindest in nur kurzem zeitlichen Abstand mit einem nördlich anschließenden Bauteil verbunden war - die Portalgewände des nördlichen Langhauses entsprechen in Material, Profilierung und Bearbeitung sehr genau dem südlichen Hauptportal. Wohin diese Durchgänge jedoch führten - zu sanitären Einrichtungen, Service- oder Versorgungsstellen oder (später) sogar zu einem größeren Spitalsgebäude wie einem Pfründnerhaus - lässt sich heute, einige Jahrzehnte nach dem vollständigen Abriß und der flächendeckenden Überbauung des letzten unmittelbaren Spitalsnachfolgers an gleicher Stelle, dem Oberwölzer Armenhaus, wohl nicht einmal mehr durch archäologische Ausgrabungen feststellen.

Zusammenfassend lassen sich für die Bauanalyse der ehemaligen Spitalskirche St. Sigismund neben einer Fülle von Detailinformationen folgende Ergebnisse nennen. Der Chor des aktuellen Kirchengebäudes stellt den ältesten Teil der Anlage dar. Zahlreiche Indizien sprechen dafür, dass es sich dabei um die bereits 1323 urkundlich erwähnte Niclas chapell handeln könnte. Das Patrozinium des Leprosenheiligen Nikolaus lässt einen Vorgängerbau vermuten, der seinerseits bereits ein frühes Spitalsgebäude darstellte. Die Erweiterung durch den Baumeister Hans Jersleben entstand in einer einzigen Bauphase, wobei dieser das architektonische Kunststück vollbrachte, einander völlig widersprechende Raumteile zu einem schlüssigen Ganzen zusammenzufügen. Möglicherweise entwarf er keine Spitalskirche, sondern einen Hospitalraum, der Gotteshaus und Krankensaal in sich vereinigte. Mit der in der aktuellen Kirche baulich verwobenen Niclas-Kapelle wartet Oberwölz mit einer der ältesten noch erhaltenen Spitalskapellen Österreichs auf.















Abbildungen, Legendentext:

Abb.1: Lageplan mit der Spitalskirche St. Sigismund (oben), der Stadtpfarrkirche St. Martin, dem rückgebauten Spitalsgebäude (schwarze Umrisslinie) und Strukturen von Stadtbefestigungen (grau angelegt) in Oberwölz

Abb.2: Oberwölz, Außenansicht der Spitalskirche St. Sigismund von Osten

Abb.3: Bauphasenplan der Spitalskirche St. Sigismund in Oberwölz: Chor (violett), Sakristeiturm (altrosa), Wehranlagen 1298-1315 (grau), Langhaus und Stadttorerweiterung beide vor 1430 (rot), barocke Vermauerung (grün), neuzeitliche Zusetzung (blau)

Abb.4: Oberwölz, Spitalskirche St. Sigismund, photogrammetrischer Plan des ehemaligen Westgiebels über der heutigen Triumphbogenwand, Ansicht von Westen: eingetragen sind die Trennlinie zwischen dem alten Giebel (ehemalige Außenwand) und seiner Erweiterung des 15. Jahrhunderts, sowie die Symmetrieachse des ersten Giebels

Abb.5: Oberwölz, Spitalskirche St. Sigismund, Fresko an der Nordwand des Chores

Abb.6: Oberwölz, Spitalskirche St. Sigismund: der nachträglich "eingehüllte" nördliche Strebepfeiler, hervorgehoben ist die Trennlinie zwischen den beiden Bauphasen

Abb.7: Oberwölz, Spitalskirche St. Sigismund, Südwestecke: Verzahnung der Kirchenwestwand mit der Nordflanke des Hintereggertores, rechts noch sichtbar die Baufuge zwischen den beiden Bauphasen des Stadttores

Abb.8: Oberwölz, Spitalskirche St. Sigismund, Nordwestecke der Kirche mit dem homogenen Eckverband

Abb.9: Oberwölz, Spitalskirche St. Sigismund, Innenraumansicht in Richtung der Empore

Abb.10: Vergleichsbeispiele der Spitalskirchen in: Mödling (Spitalskirche zum Heiligen Ägyd, unsichere Baudaten), Treysa (Heiliggeist-Hospital, 14. Jahrhundert), Spangenberg (St. Elisabeth, um 1340), Perchtoldsdorf (Spitalskirche zur Heiligen Dreifaltigkeit, ab 1400); Reihenfolge von links oben nach rechts unten



Abbildungsnachweis:

Abb.1: Bauaufnahme der TU Wien,2002 / 2003, Ausarbeitung der Autoren

Abb.2: aus: Kirchenführer "Oberwölz/Steiermark", Christliche Kunststätten Österreichs, Nr. 153, Salzburg 1987, 2. überarbeitete Auflage 1999, Rückencover

Abb.3: Bauaufnahme der TU Wien, 2002 / 2003, Ausarbeitung der Autoren

Abb.4: Bauaufnahme der TU Wien, 2002 / 2003, Ausarbeitung der Autoren

Abb.5: Bildarchiv der Autoren

Abb.6: Bauaufnahme der TU Wien, 2002 / 2003, Ausarbeitung der Autoren

Abb.7: Bildarchiv der Autoren

Abb.8: Foto Werner Döring

Abb.9: aus: Kirchenführer "Oberwölz/Steiermark", Christliche Kunststätten Österreichs, Nr. 153, Salzburg 1987, 2. überarbeitete Auflage 1999, S.14

Abb.10: Mödling und Perchtoldsdorf in: Katzberger, Paul: Die Spitalskirche in Perchtoldsdorf, Marktgemeinde Perchtoldsdorf 1988, Abb. 76 und Z7; Spangenberg und Treysa in: Leistikow, Dankwart: Hospitalbauten in Europa aus zehn Jahrhunderten. Ein Beitrag zur Geschichte des Krankenhausbaues, Ingelheim am Rhein 1967, Abb. 36 und 38

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